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25 Jahre Republik Freies Wendland
Die Jubiläen und runden Geburtstage in der Anti-Atom-Bewegung häufen sich, im Wendland und anderswo. 25 Jahre Atomstandort Gorleben – das war im Februar 2002. Im März 2004 jährte sich der legendäre Treck der Lüchow-Dannenberger Bauern nach Hannover zum 25. Mal.
Wackersdorf wurde am 4. Februar vor 20 Jahren als Standort für die Wiederaufarbeitungsanlage benannt. Vor 30 Jahren, am 18. Februar 1975, stürmten im badischen Wyhl zum ersten Mal Umweltschützer den Bauplatz für ein Atomkraftwerk. Nun also 25 Jahre Republik Freies Wendland. Das Hüttendorf stand vom 3. Mai bis 4. Juni 1980 im Wald zwischen Gorleben und Gedelitz, auf der damaligen Tiefbohrstelle 1004.
Die Republik Freies Wendland ist vielfach beschrieben und besungen worden, und nicht wenige beschwören ihren Geist bis heute. Dutzende Filme über die Platzbesetzung wurden gedreht, tausende Fotos veröffentlicht. Broschüren erschienen und Bücher, in Deutschland und in Frankreich schrieben Studenten ihre Examensarbeiten über das Hüttendorf.
25 Jahre Republik Freies Wendland. Als die Herausgeber dieses Reisebegleiters um einen Text zum Thema baten, machte sich einen Moment lang Ratlosigkeit breit. Was gab es wohl noch zu erzählen, wo doch schon über alles berichtet wurde? Wir wühlten uns durch Berge alter Flugblätter, Fotostapel und Zeitungen, schwelgten in alten Erinnerungen und nostalgischen Gefühlen. Und fanden dann, dass einiges es vielleicht doch wert wäre, noch einmal aufgeschrieben zu werden.
Die Republik Freies Wendland ist schon älter Eigentlich ist die Republik Freies Wendland älter als 25. Sie wird nämlich schon im März 1979 beim großen Treck nach Hannover proklamiert. Ein Beteiligter: „Als sich unser Zug der Kreisgrenze nähert, macht er halt, und es wird die Republik Freies Wendland ausgerufen. Das alte Landkreisschild wird mit dem neuen Wappen überhängt, und vor einer Traube von Kameraleuten wird mit der ungeschliffenen Art der Wendländer die Autonomie erläutert. Eine junge Bäuerin wird zur Außenministerin ernannt, da sie schon einmal in Hannover war“.
Und auch die Besetzung der Bohrstelle 1004 beginnt schon einen Monat vor dem 3. Mai. Am 4. April 1980, Karfreitag, nehmen rund 20 wegen ihres bunten und „wilden“ Aussehens von vielen so genannte „Stadtindianer“ das Gelände um die Bohrstelle 1004 in Beschlag und beginnen dort mit dem Bau von drei Hütten. Die Bürgerinitiative und andere Widerstandsgruppen aus dem Wendland kritisieren die ihrer Ansicht nach verfrühte Aktion. Sie befürchten eine vorzeitige Räumung, was die Voraussetzungen für die „richtige“ Besetzung entscheidend verschlechtern könnte. Die Polizei verteilt Flugblätter an die „Stadtindianer“, in denen bei weiterem Aufenthalt auf dem Gelände Geldbußen bis zu 50.000 Mark angedroht werden.
Mitte April bestimmen die Atomgegner bei einem Treffen in Trebel endgültig den Termin für den Beginn der Platzbesetzung. Die „Provisorische Regierung der Republik Freies Wendland“ tritt auf den Plan: „Dreißig Jahre haben unfähige Zentralregierungen versucht, das Gebiet der Freien Republik Wendland ihren absurden Vorstellungen von Wirtschaftswachstum und Industrialisierung anzugliedern“. Eine als Plakat verklebte „Vorläufige Besitzanweisung“ vom „Untergrundamt 3131 Gorleben-Solleben, Postfach 1004“ gibt bekannt, dass mit Wirkung vom 3. Mai „die Bürger der Freien Republik Wendland berechtigt sind, das Grundstück zum Zwecke der Verhinderung einer Tiefbohrung als Aufenthaltstort zu nutzen“.
Wie alles anfing
„Am Wochenende des 3. Mai zogen hunderte junger Menschen aus dem Landkreis, Landwirte, Handwerker, Schüler, Studenten, verstärkte durch auswärtige Freunde zur Bohrstelle 1004. Die Menge wuchs und wuchs, bis es tausende waren, und sie griffen zu Säge, Hammer, Beil und Nägeln und errichteten auf dem vernichteten Kulturboden die Republik Freies Wendland“. Etwas pathetisch, berichtet damals die Bewegungs-Zeitschrift „Atom Express“ über den Beginn der Platzbesetzung. Auf sandigem Untergrund errichten die Besetzer dutzende Häuser aus Baumstämmen, Stroh und sogar aus Glas. Ein Küchengebäude entsteht, ein großes Rundhaus für Versammlungen, eine Batterie von Latrinen, eine Klinik und ein Passhäuschen mit Schlagbaum, wo die Wendenpässe ausgestellt werden und über dem die grün-gelbe Wendlandfahne flattert.Die Atomkraft-Lobby, die Behörden und die Landesregierung in Hannover sind empört. Sie verweisen auf mit der Besetzung verbundene Rechtsbrüche und Ordnungswidrigkeiten. Niedersachsens Innenminister Möcklinghoff sagt bei einem Besuch im Landkreis, dass die „scheinbare Idylle und das rechtschaffene, ärmliche und gewaltlose Bild nur Kulisse“ seien. Später, nach der Räumung bezeichnet es Möcklinghoff als wichtig, „einigen verwirrten und irrenden jungen Menschen wieder zu einem gesetzlich fundierten Rechtsbewusstsein verholfen zu haben“. An einem Pfahl auf dem Dorflatz hängt der Lageplan. Auf einer Seite sollen die Wohnhäuser, auf der anderen Werkstätten entstehen, für das Nordende sind die Gemeinschaftsgebäude vorgesehen. Da es keine weisungsbefugte Bauleitung gibt, halten sich die Besetzer aber nur bedingt an die Vorgaben. Nur das Freundschaftshaus wird mit vorher zurecht gesägten Brettern und Balken errichtet.Die „taz“ bewundert das „fast unüberschaubare Gewirr von Hütten, sehr schönen großen Rundhäusern mit Dachterrassen bis hin zu Erdhäusern und Indianerzelten“. Das „Nordrhein-Westfalen-Haus“ ist eine Reihenhausanlage aus fünfeckigen, wabenförmig zusammenhängenden Hütten mit kleinen Innenhöfen. Viele hundert aufeinander geschichtete leere Flaschen isolieren das Frauenhaus gegen Hitze und Kälte. Das „Haus der Architekten“ besteht fast ausschließlich aus Glasfenstern und -türen. „Hackys Loch“ ist eine mehrere Meter tiefe Erdhöhle.
Das „Fritz-Teufel-Haus“ muss für die Anschuldigung des Lüneburger Regierungspräsidenten Wandhoff herhalten, die Republik Freies Wendland sei ein Refugium für Terroristen. Auch die Türme bieten Anlass zu Stimmungsmache. „Dort oben haben sie Wachs für die Bullen“, zitiert „Bild“ einen fiktiven Dorfbewohner.
Alltag in der Utopie
In den ersten Tagen bringt ein Bauer aus Marleben Wasser in einem großen Tank ins Hüttendorf. Später wird eine Bohrung nie-dergebracht, das Wasser gelangt nun mittels einer Handpumpe ins Dorf. Nun können auch die von einer Baumschule gespendeten Büsche und Kiefer-Setzlinge, die wegen der Trockenheit und des Sandbodens einzugehen drohen, begossen werden. Es gibt sogar Sonnenduschen und ein Schwitzbad in der Republik Freies Wendland, das Wasser in den Tanks wird durch einfache Solarzellen erwärmt. Der Marlebener Landwirt bekommt später noch ärger, weil er das Wasser ohne zu fragen bei der Feuerwehr gezapft hat.
An den Wochenenden werden die 500 bis 700 ständigen Platzbesetzer von tausenden Besuchern förmlich überrollt. Das Dorf wird zur touristischen Attraktion für Familienausflüge und Kaffeefahrten. Viele Gäste solidarisieren sich mit der Protestaktion, bringen Lebensmittel und Werkzeug vorbei, an-dere kommen mehr zum Exoten-Angucken. „Eines abends tauchen unverhofft ein paar Damen im Abendkleid und Herren im Smoking auf und überreichen etwas verlegen Platten mit Häppchen, die von einer Geschäftseinweihung übrig geblieben sind“, schreibt die Journalistin Sabine Rosenbladt.
Ein Platzbesetzer aus Berlin zeigt bei der Einreise nach Griechenland seinen Wendenpass vor. Die Zöllner winken den Mann aus der Schlange, wollen ihn festhalten und das Dokument beschlagnahmen. Als er seinen „richtigen“ Reisepass zeigt, darf er weiterfahren. In den Wendenpass drücken die Grenzer einen Stempel: „Drei Monate Aufenthaltsgenehmigung“. Im Hüttendorf sind schon nach vier Tagen die ersten tausend Wendenpässe ausverkauft. Die Einnahmen, der Pass kostet zehn Mark, gehen in die Dorfkasse. Der Wendenpass ist „gültig, so lange sein Inhaber noch lachen kann“. Die in einer eigenen Münzpräge hergestellten Geldstücke – Währungseinheit war das oder der „Wend“ – können sich als Zahlungsmittel jedoch nicht durchsetzen.Zivilpolizisten nisten sich auf dem Platz ein, sie werden enttarnt und nach Hause geschickt. Dann beunruhigt eine Serie von Brandanschlägen die Dorfbewohner. In einer Nacht legen Unbekannte im Infozelt Feuer. Sie zerstören auch eine Kamera, stehlen Stempel für die Wendenpässe und Broschüren. Da man weitere Anschläge befürchtet und zudem akute Waldbrandgefahr besteht, werden Brand- und Nachtwachen eingerichtet. Jeweils zehn Leute patrouillieren in Vier-Stunden-Schichten von 21 Uhr bis neun Uhr durch das Dorf und die Umgebung.
Kein Tag ohne Kulturprogramm. Umsonst und draußen oder im Freundschaftshaus spielen Rockbands, Folkgruppen, Theaterkollektive. Auftritte von Alcatraz aus Hamburg, Wolf Biermann und Walter Moßmann (der sich im Dorf verliebt und bleibt), dem MEK Bochum, der Bremer Band Oktoberwind, einem Jugend-Sinfonie-Orchester und der Theaterwehr Brandheide aus dem Wendland. Einmal gibt es ein Puppentheater-Stück über die Bauernkriege. Eine Besetzerin erinnert sich: „Und selbst wenn an einem Abend nichts angesagt war, dann hieß das nicht, dass das Dorf tot war. Dann haben alle selbst was gemacht“. Zum Beispiel Lieder geschrieben. Das „Wendland-Lied“ nach der Melodie von „Brick in the Wall“ oder der „Räumungstango“ sind nur die bekanntesten. Am neunten Tag der Besetzung errichten Göttinger Theologie-Studenten eine Holzkirche. Zum ersten Gottesdienst kommen 100 Leute. Die hannoversche Landeskirche erlässt ein Predigtverbot für einen Pfarrer aus Gartow.
Lieder, Berichte aus dem Dorf, Interviews: Am 18. Mai strahlt „Radio Freies Wendland“ seine erste Sendung aus, hunderte Dorf-bewohner versammeln sich zur Premiere am Lautsprecherwagen. Es gibt in der Folgezeit mehrere Sendungen, auch die Räumung wird live übertragen. Viele Polizisten hören mit: „Radio Freies Wendland tönt unentwegt aus dem kleinen Transistorradio, das ein Kollege mitführt. So erfahren wir auch das, was wir nicht sehen können. RFW berichtet in erstaunlicher Sachlichkeit“. Weitere Medien des Dorfes sind die „Wendländische Wochenschau“ und die Zeitung „Freies Wendland“.
Streiten und Vertragen
An einem Abend berichten Bremer Atomgegner über die harten Auseinandersetzungen bei der Demonstration gegen eine Rekrutenvereidigung im Weserstadion am 6. Mai. In vielen Zeitungen hat es danach Kampagnen gegen die Bremer „Reisechaoten“ gegeben, die nun auch in Gorleben „einsickerten“. Auch bei der Veranstaltung im Freundschaftshaus vertreten einige die Meinung, dass Steinewerfer „bezahlte Provokateure“ seien und im Hüttendorf nichts zu suchen hätten.Während sich viele im Dorf auf die Gestaltung eines alternativen Lebens konzentrieren und – warum denn auch nicht? – mehr Urlaub als Politik machen, an den Hütten werkeln oder nach Grundwasser bohren, gibt es heftige Kontroversen zwischen den Atomkraftgegnern aus dem Landkreis und denen aus den Städten. Der Streit geht um die Perspektiven der Besetzung, um den Widerstand bei der Räumung, um eine mögliche Großdemonstration und Wiederbesetzung des Platzes am Wochenende nach dem erwarteten Polizeieinsatz.Soll die Republik Freies Wendland bei einer Räumung verteidigt werden? Wenigstens symbolisch, durch Jauche-Beschuss, durch Barrikaden? Zähe, lähmende Diskussionen im Sprecherrat und in Vollversammlungen. Nachdem man sich nicht einigen kann, ob Barrikaden noch gewaltfreie Widerstandsmittel sind, schreiten ihre Befürworter zur Tat. Sie heben auf den Zufahrtswegen Gruben aus und tragen starke äste zusammen. Nach einer Intervention des Bürgermeisters von Trebel, der mit der Besetzung sympathisiert, dem Sperren der Gemeindewege aber nicht zustimmt, wird beschlossen, die Hindernisse wieder abzubauen. Da aber zunächst niemand den Beschluss umsetzt, stehen die angefangenen Barrikaden noch Tage lang herum.Das Verhältnis der Dorfbewohner, so haben es viele erlebt und beschrieben, ist trotz der Spannungen und Konflikte durch Vertrauen, Unkompliziertheit, Körperlichkeit und Emotionalität gekennzeichnet. Eine Lehrerin: „Ich hab mich über jeden gefreut, der neu angekommen ist. Das waren ja alles Leute, die was ähnliches wollten wie du selbst, ich hätte jedem um den Hals fallen können“. Lilo Wollny (Jahrgang 1926): „Auf dem Platz, als ich die Leute gesehen hab, hatte ich andauernd das Gefühl, ich muss die irgendwie in den Arm nehmen, und ich hab das auch gemacht“. Marianne von Aleman (Jahrgang 1930): „Was sich hier herausgebildet hat, das Zusammengehörigkeitsgefühl, das ist ein unwahrscheinliches Erlebnis für uns“. Ein Taxifahrer und Besetzer: „Unser Dorf ist so stark, weil wir gemeinsam daran gebaut haben. Abfallgegenstände, alte Fenster, abgebrochene äste, Glasscherben, Draht und alte Nägel. Eigentlich totes Material ist lebendig geworden in der Republik Freies Wendland“.
Alles zu Ende. Oder?
Bei der Räumung der Republik Freies Wendland stehen und sitzen den rund 10.000 Polizisten und Grenzschützern – viele von ihnen haben sich vermummt und ihre Gesichter geschwärzt – 4.000 Atomkraftgegner gegenüber. Die Staatsmacht zieht ein Bürgerkriegsmanöver auf, mit ständig startenden, landenden und im Tiefflug über die Hütten donnernden Hubschraubern. Polizisten zerren die Demonstranten aus der Menge und laden sie auf der anderen Seite der Absperrungen wieder ab. Die unter den Türmen ausharrenden Besetzer leisten heftigeren Widerstand, der allerdings auch hier bald gebrochen ist. Als letzte werden der Quetschkastenspieler in der Schiffsschaukel und die Leute im großen Turm von Beamten überwältigt, die sich aus Hubschraubern abgeseilt haben. Riesige Bulldozer walzen die Hütten platt. Es gibt in der Republik Freies Wendland eine weit gehende Identifizierung von Erbauern und Erbautem – und auch deswegen viele Tränen bei der Räumung. „Was da in Klein-Utopia einstürzte, ist die Architektur einer Welt ohne Hiroshima“, schreibt die „Zeit“.Die Politiker nehmen die Proteste und die Polizeiaktion ernst. Bundeskanzler Schmidt und Innenminister Baum lassen sich alle 30 Minuten über den Stand der Räumung unterrichten. Das Hüttendorf wurde zerstört. Die Republik Freies Wendland aber lebt fort. Viele von uns, die wir in diesen Tagen im Wendland von Scheune zu Scheune radeln, hat die Republik Freies Wendland mit geprägt. Die Wochen im Hüttendorf, der Jahre lange Widerstand davor und danach – all das hat uns eine politische Sozialisation vermittelt, von der sich manches bis heute erhalten hat. Die Republik Freies Wendland war nicht die erste und schon gar nicht die letzte Widerstandsaktion im Wendland. Aber sie verhalf dem Widerstand zu einer eigenen, regionalistischen Identität. Einer Identität, die mit dem jeweiligen Wohnsitz der Widerständigen nichts zu tun hat. „Das Antiatomdorf war nicht allein gegen die tödliche Atomenergie gerichtet, sondern Symbol neuer Lebensweise überhaupt“, schrieb der Gewerkschafter und Atomkraftgegner Heinz Brandt. Den Bewohner der Republik Freies Wendland blieben nur 33 Tage, um ihre Ideen zu entwickeln, auszutauschen und ihr Zusammenleben entsprechend zu organisieren. Das wachsende, sich ständig weiter entwickelnde „Experiment 1004“ wurde durch die Räumung abrupt – wenn auch erwartet – unterbrochen. Wenn auch vielleicht anders als damals erwartet, hat es seine Fortsetzung gefunden. Im anhaltenden, phantasievollen Widerstand gegen Castortransporte ebenso wie in der Scheunen- und Hofkultur bei der Kulturellen Landpartie.
Reimar Paul