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Artikel: Der Kulturkessel . 1004 Wunderpunkte Wendland

Der Kulturkessel

Demokratie-Check an der Castor-Strecke

12.11.2003, kurz nach Mitternacht im Dörfchen Laase bei Gorleben: Der dritte Tag des Kulturmarathons mit Lesungen, Konzerten, Kabarett und Theater hat gerade begonnen. Das Kultur-Zelt ist gut beheizt und besucht, draußen herrschen strenge Minusgrade. Da klingelt das Telefon. Eine Hundertschaft Polizisten sei im Laufschritt auf dem Weg durch Laase, lautet die aufgeregte Botschaft. Aber niemand macht sich Sorgen. Schließlich steht das Zelt 500 Meter von der für den Castortransport freigehaltenen und für uns per Verfügung verbotenen Zone entfernt. Schließlich weiß jeder, dies ist eine genehmigte Veranstaltung mit ausschließlich kulturellem Inhalt. Wenige Minuten später sind die zwei Straßenkreuzungen vor dem Kultur-Zelt mit Polizeiketten abgeriegelt und die Menschen sind eingekesselt. Ohne Lautsprecherdurchsage, ohne Aufforderung, das Gelände zu verlassen, ohne Begründung.

Die eingesperrten Gäste bleiben besonnen. Die Lesung geht weiter, dann beginnt eine Harfinistin ihr Konzert. Immer wieder versuchen kleine Gruppen von Gästen zu gehen. Weit kommen sie nicht. Für sie wird innerhalb der Polizeikette noch ein Extra-Kessel in einer Wagenburg aus Polizeibussen eingerichtet. Dort stehen sie stundenlang in den Abgasen der Polizeiautos. Ein junger Mann, der sich frustriert in seinen Bus schlafen legen will, darf sein Auto nicht betreten. Laaser Bürger werden ohne Angabe von Gründen am Verlassen ihrer Grundstücke gehindert, andere nicht mehr in ihr Haus gelassen, das sie gerade erst verlassen haben. Nachbarn dürfen sich nicht mehr besuchen, 14-jährige, die frierend auf der Strasse stehen, werden trotz Bitten und Betteln der Einwohner von der Polizei nicht auf Privatgrundstücke gelassen.
4 Uhr: Ein hilfloser Konfliktmanager der Polizei bestätigt nach ewigem Hin und Her mit einer Laaser Bürgerin: „Ich bin hier nur eine Witzfigur“. Trotz massivem Polizeieinsatz bleibt das erhöhte Gefahrenpotential“ weiterhin unauffindbar.

Um 5.30 Uhr hört man die Hubschrauber, die den Konvoi mit der strahlenden Fracht auf seinem Weg ins Zwischenlager begleiten. Kurz danach ein paar halblaute Befehle, Motoren werden angeworfen. Aus einem Polizei-Bulli dröhnt über Megaphon zum Abschied der Queen-Song „We are the Champions“. Einen Monat nach dem Kulturkessel wird Anzeige gegen die Bezirksregierung erstattet. Der Demokratiecheck geht in die nächste Phase: Ein langer Prozess beginnt …
Der Rechtsstreit verursacht hohe Kosten (bisher über 5.000 Euro). Wir haben deshalb ein Spendenkonto eingerichtet und bitten darum, uns zu unterstützen.

RA Thomas Hauswaldt: wg. Anderkonto Musenpalast Laase
K.Nr. 14 76 45 34,
BLZ 200 300 00,
Vereins- und Westbank AG.
22. Mai, 18 Uhr Kulturzelt Korvin: „Der Demokratie-Check“ mit dem Ermittlungsausschuss Gorleben, RA Ulrike Donat, Mr. X

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1004 Wunderpunkte Wendland

Eine Textcollage aus den Programmheften der vergangenen Jahre von Mathias Edler

„1004“ hieß eins von vielen Bohrlöchern, mit dessen Hilfe der Salzstock Gorleben von 1979 bis 1983 auf seine Eignung als Endlager für hochradioaktiven Müll untersucht wurde. Doch auf „1004“ entstand im Sommer 1980 die legendäre „Republik Freies Wendland“ – ein Hüttendorf mit Gemeinschafts-, Küchen- und Wohnhäusern, Gärten, Schweineställen und Solaranlagen, bewohnt von über 10.000 Menschen, 33 Tage später niedergewalzt von den Bulldozern der Staatsgewalt. Die Atomkraftgegner hatten nicht nur gegen den atomaren Wahnsinn protestiert, sondern dem ganzen Land gezeigt, wofür sie eintreten: für ein Leben im Einklang mit der Natur, für Gewaltlosigkeit, dafür, selbst Verantwortung zu übernehmen, selbst zu machen, schöne Dinge zu schaffen. Im September 1989 heben bewegte Geister die Wunde.r.punkte im Wendland und damit die Kulturelle Landpartie aus der Taufe. Die Ideale und Utopien von „1004“ erwiesen sich als aktueller denn je – und sind es bis heute geblieben.

Der Zusammenschluss jener, die hier aktiv werden, ist weder rein zufällig noch beliebig. Die gemeinsamen Wurzeln liegen im Widerstand gegen die Atomanlagen (in Gorleben) und dem Lebensgefühl Anderes zu wollen, als abhängig zu arbeiten und sich feierabends vom Fernseher leben zu lassen(…). So wollen wir hier gemeinsam aktiv werden und gleichzeitig zeigen, dass „Gorleben lebt“.

Unter diesem Motto haben wir dem Sinnbild menschlichen Größenwahns von Anfang an unsere positiven Lebenskräfte entgegengesetzt. (…) „wunde.r.punkte wendland“ ist ein Programm, mit dem politische, ökologsche und christliche Initiativgruppen, Künstler und Handwerker, Bewegte und Unentwegte sich und ihr Leben vorstellen wollen: ein Leben im Schatten von Gorleben, zwischen Utopie und Alltag, zwischen Auflehnung und Anpassung.

(…) Aber der lange Widerstand gegen die Atomindustrie hat auch bei uns seine Spuren hinterlassen: wir merken Erschöpfung, manchmal auch Resignation. Wir machen daraus keinen Hehl. Unsere Erfolge sind von Natur aus unsichtbar: wir haben erreicht, dass es bestimmte Dinge nicht gibt. Unsere Niederlagen dagegen sind in Gorleben von jedem zu besichtigen. (…) Manchem Spötter mag das, was sich hier als alternativ, kulturell, künstlerisch oder lebenskünstlerisch präsentiert, wie ein Ersatz für verlorene Kämpfe vorkommen. Selbst wenn es so ist: diese Alltagskultur dient uns dazu, aus ihr die Kraft zum Weitermachen zu schöpfen. Ist das etwa nichts? (…) Gehen Sie los: schnuppern Sie, entdecken Sie, genießen Sie. Und kommen Sie wieder. Wir brauchen jeden.

Dieses Zipfelchen Land Lüchow-Dannenberg, das bis zur Grenzöffnung im November 1989 – nur von Westen her ereichbar – in die DDR ragte, war ein Geheimtipp für Vogelfreunde und stille Wanderer. Und für Kreative. Im Landkreis, in dem man vergebens eine Filiale der Deutschen oder der Dresdner Bank suchen würde, gibt es eine der größten Künstlerkonzentrationen in Deutschland. (…)

Die Idee – Kunst außerhalb der traditionellen Orte der Präsentation zu zeigen, ist für uns reizvoll (…). Auf den Wegen zwischen Veranstaltungsorten auf den Feldern, in Bushäuschen, an Wegkreuzugen soll es passieren: unerwartet, sonderbar, poetisch, meditativ, herzergreifend, brutal.

Das Wendland war ein Reservat. (…) Wann ist die Idylle zu Ende und wo bricht die Wirklichkeit durch? Auch dieses Jahr sind die Besucher der Wunderpunkte eingeladen, sich mit dem Fahrrad auf den Weg durch eine schöne, abwechslungsreiche Landschaft zu machen (…). Was sie sehen und erleben werden, wird manchmal von der Gunst der Stunde abhängen; wie das eben so ist auf einer Entdeckungsreise: manches steht fest, vieles ist ungewiss.

Künstler, Kunsthandwerker, Biobauern und andere frei-schaffende Geister (…) öffnen ihre Ateliers, Werkstätten und Höfe, stellen ihre Werke und Produkte aus, feiern Feste und laden jeden dazu herzlich ein.

Also zehn Tage lang Sinnenfreuden auf allen Ebenen? So soll es sein – aber trotzdem hängt über diesem Jahr der Schatten des drohenden Castortransportes in das ato-mare Zwischenlager Gorleben. Hochradioaktiver Atommüll soll in einem ungeeigneten Lager (offene Halle) zwischen-, um später dann, in einem ebenso ungeeigneten Salzstock, endgelagert zu werden. Nichtsdestotrotz leben wir nach dem Motto: „Ein Lächeln wird es sein, dass sie besiegt“.

Der Reisebegleiter ist nach Orten sortiert. (…) Diese Veranstaltung hat ihre Wurzeln im Witz, in der Lebendigkeit der Atomgegner. Die Versuche, sie zu kriminalisieren, zu ermüden, sie durch staatliche übermacht und Geld zu überwinden, haben zwanzig Jahre keinen Erfolg gezeigt. (…) Doch, wer Macht, Geld und mittlerweile geschaffenen Realitäten entgegentreten will, braucht Kunst und Kultur als wichtigen Bestandteil des Lebens und des Widerstehens.

Die Kunst ist die Schwester der Natur, sagt ein altes Sprichwort. (…) Wie abwechslungsreich und lebendig das Resultat sein kann, wenn dieses Geschwisterpaar harmoniert, zeigt sich während der Kulturellen Landpartie. (…)

Aber auch auf das dazugehörige überraschungsmoment müssen Sie als Gäste sich einlassen.

Möglicherweise empfinden Sie eine Ausstellung als enttäuschend, weil kaum über Volkshochschulniveau stehend, das dazugehörige Haus aber hochinteressant, weil geradezu vorbildlich restauriert. An anderer Stelle stoßen Sie dagegen völlig unerwartet in einem noch nach Mist riechenden Stall auf handwerklich hervorragend gemalte Bilder. Vielleicht sind Sie in einem Dorf erstaunt über ein äußerst lebendiges Althippie-Reservat, in dem auch auf die Bedürfnisse Ihrer Kinder eingegangen wird, in einem anderen beeindruckt Sie der Klang eines Muskinstrumentes, dessen Namen sie noch nie gehört haben.

Zu zeigen, daß „Andersmachen“ möglich ist, daß eine Utopie jenseits der notwendigen alltäglichen Kompromisse nötig ist, auch das ist untrennbar mit der Kulturellen Landpartie und ihren Machern verbunden. Wie schon auf „1004“ wird zwischen Himmelfahrt und Pfingsten vor allem eines deutlich: Zum Dagegen-Sein gehört immer auch für etwas einzustehen. Als Besucher haben Sie die Möglichkeit, sich durch Begegnungen und persönliche Gespräche selbst ein Urteil darüber zu bilden, ob es sich bei den Leuten hier um „verantwortungslose Chaoten“ handelt, die nur um des Nörgelns willen ihren Widerstand auch nach einem regierungsamtlichen „Atomausstieg“ fortführen.

Hinter der Landpartie (vorm. „wunde.r.punkte wendland“) steht kein Fremdenverkehrsverband und keine Firma mit professionellem Management. Aussteller und VeranstalterInnen beratschlagen schon Monate vorher auf gemeinsamen Treffen die Organisation für das nächste Frühjahr (…) Von Anfang an hingen die Wunderpunkte nicht am staatlichen Subventionstropf und Kurseinbrüche von Landpartie-Aktien werden Sie nicht erleben: Die Börsen dieser Welt müssen ohne uns auskommen. Kein Großunternehmen füttert die „liebenswerten Chaoten“ aus dem Wendland mit steuerlich absetzbaren „Peanuts“ aus der Portokasse und nennt das dann „Kultursponsoring“ (…).

Unseren Erfolg heften sich dann gerne Andere an ihre Brust: Der neue CDU-Landrat beispielsweise, der gerne „5 – 10 Veranstaltungen wie die Landpartie“ mit so „geringen Kosten für die öffentlichen Haushalte“ hätte und dem ansonsten zum Stichwort „Regionalentwicklung“ nur der Bau einer Autobahn mitten durch die Rundlingsdörfer oder das Einstreichen von so genannten „Gorleben-Akzeptanz-Geldern“ einfällt. Die Landpartie, seit Januar 2004 ein gemeinnütziger Verein, bleibt dabei: Wir verkaufen unsere Zukunft nicht an die Atomindustrie, finanzieren uns lieber selbst und bleiben freie Wenden.

Diesmal öffnen sich die Hoftore an 100 Ausstellungspunkten in 79 Dörfern des Wendlandes.

Zu sehen ist ein lebendiger überblick über das zeitgenössische Kunsthandwerk, von fast vergessenen Handwerkstechniken bis hin zu Avantgardekunst. Trotz aller Superlative spiegelt die Landpartie weiterhin die Lebensqualität wider, die das Land zu bieten hat: Juniabende unter knorrigen Obstbäumen, lange Gespräche mit selbstgemachter Musik am Lagerfeuer, der Geruch vom ersten Heuschnitt. Theater, Konzerte und nicht zuletzt gesundes, gutes Essen + Trinken machen den Kulturgenuss komplett. Wenn Sie mit uns das Frühjahr im Wendland genießen, denken Sie daran, dass wir Ihre Unterstützung auch beim nächsten Castortransport im Herbst brauchen.

Doch zunächst laden wir Sie ein: Zu einer Zeitreise von gestern bis morgen – zu einem Fest für das Leben und die Sinne.

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